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Freifahrtscheine im Kampf gegen den Individualverkehr

Wenn die Straßenbahn der Linie 709 in die Stadtmitte von Neuss einfährt, dann gelangt sie neuerdings in eine besondere Zone. Zwischen den Haltestellen „Theodor-Heuss-Platz“ und „Stadthalle“ dürfen Fahrgäste seit Jahresbeginn ohne Ticket fahren. Es sind sieben Haltestellen auf der etwa 1,8 Kilometer langen Strecke, die durch die Geschäftsmeile der City führt.

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„Wir müssen etwas für den Klimaschutz tun und wollen Bus und Bahn als attraktive Alternative zum Pkw stärken“, erklärt Bürgermeister Reiner Breuer (SPD) auf WELT-Anfrage. Bis 2035 soll sich der Anteil des motorisierten Individualverkehrs um 50 Prozent reduzieren.

Quelle: Welt: Wenn die Parkgebühr wegen der kostenlosen Straßenbahn steigt

Als wir heute mit dem Zug in die nächste größere Stadt gefahren sind, war der kurze einzelne Gliedertriebzug wiedereinmal hoffnungslos überfüllt. Wie üblich wurden viel zu wenig Wägen eingesetzt. Dicht gedrängt stand man mit Rollstuhlfahrern, Radfahrern, Elektro-Roller-Fahrern und Kinderwägen im Gang. Das Ein- und Aussteigen war eine Herausforderung, das ein ständiges Umsortieren der Fahrgäste erforderte. Wie zum Hohn wünschten die Standard-Durchsagen den Reisenden dann auch noch eine angenehme Fahrt. Weite Teile der Züge und Bahnhöfe haben schon lange keinen Putzlappen mehr gesehen oder sind demoliert und verschmiert.

Aktionen, wie die Möglichkeit, ein paar Haltestellen ohne Ticket zu fahren, sind bestenfalls symbolischer Natur. Zu einem Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel und vielleicht sogar der vollständige Verzicht auf ein eigenes Fahrzeug, wird dies nicht führen. Was nützt es, wenn man in der Stadt ein paar Meter ohne Ticket mit der Straßenbahn fahren darf, man aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum von außerhalb in die Stadt kommt?
So lange der öffentliche Nah- und Fernverkehr nicht rund um die Uhr zuverlässig und pünktlich mit ausreichender Kapazität für Transporte von sperrigen Gütern bis in entlegene Gebiete fährt, werden viele Menschen auf ein eigenes Fahrzeug angewiesen sein. Und wenn schon ein Auto vor der Haustür steht, wird man sich kaum den Stress antun, bei Wind und Wetter quer durch die Stadt zum nächsten Bahnhof oder eine Bushaltestelle zu rennen und dort noch schnell an einem durch Vandalismus verkratzen Fahrkartenautomaten ein sündhaft teures Ticket zu kaufen, um mit dem Zug zu fahren. Einigermaßen günstig sind Bahntickets nur, wenn man schon Monate im Voraus weiß, wann man wohin fahren muss. Und dann verhindert zu allem Überfluss häufig eine Zugbindung flexible Änderungen im Reiseplan.
Wir müssen übrigens auf der Straße zum nächsten Bahnhof laufen, weil es streckenweise keine Fußwege gibt. Platzt wäre genug für einen ordentlichen Bürgersteig, aber leider hält man es wohl nicht für nötig, auch für Fußgänger eine sichere Möglichkeit für den Weg zum Bahnhof zu schaffen. Dafür hat man an diesem Bahnhof umfangreich an Autofahrer gedacht. Wenn ich aber schon ins Auto steigen muss, um sicher zum Bahnhof zu kommen, dann kann ich in den meisten Fällen auch gleich zum eigentlichen Ziel fahren.
An größeren Bahnhöfen fehlt dafür häufig die Möglichkeiten, kurzzeitig unkompliziert und ohne Risiko eines Strafzettels mit einem Fahrzeug zu halten, um Bahnreisende zum Bahnhof zu bringen oder vom Bahnhof abzuholen. Ein durchaus realistisches Szenario, da Züge üblicherweise nicht bis zum Zielort fahren und die “letzte Meile” irgendwie anders überbrückt werden muss.

So lange der öffentliche Nah- und Fernverkehr in einem solch schlechten Zustand ist, sind Aktionen, biete die Möglichkeit, in einer einzelnen Stadt ein paar Meter ohne Ticket fahren zu können, keine realistische Alternative zum Individualverkehr und wird kaum dazu beitragen, die Attraktivität der öffentlichen Verkehrsmittel ausreichend zu steigern.
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